- Zu dieser Ausgabe
- Krisztina Tóth - Ungarn
- James Hopkin - England
- Mima Simić - Kroatien
- Andrej Nikolaidis - Montenegro
- Christos Chrissopoulos - Griechenland
- Robin Yassin-Kassab - Schottland / Syrien
- Yekta Kopan - Türkei
- Diego Marani - Italien
- Das Istanbul Tanpınar Festival - Bericht von Ursula Bergenthal
James Hopkin - England
Ein Tag in der dunklen JahreszeitDiese Dunkelheit habe ich selbst gemacht. Denn die Ringe unter meinen Augen sind keine Ringe, es sind Beutel. Und diese geheimen Beutel sondern langsam, Tröpfchen für Tröpfchen, Tinte an die Umgebung ab, so dass sich die Luft um mich verdunkelt. Meine Augenlider wiegen zu schwer, um die Düsternis fortzuwedeln. Den ganzen Tag bin ich in Dämmerung gehüllt.
Ach Süße, die Welt ist schwer.
Vor allem wenn man bedenkt, dass ich voll von heißem Wasser und Honig bin. Und einer wild verspritzten halben Zitrone. Ich werde sie Träne für Träne ertragen, wenn du meinst, dass es hilft. Knoblauch habe ich auch schon gegessen und mir ein wenig auf die Brust gerieben. Sterben werde ich nicht. Ich arbeite für die Stadt. In der Wohnraumverwaltung.
Vergib mir, ich wollte nur meinen Kopf an deine Schulter lehnen.
„Ich kenne dich nicht einmal“, sagte sie mit furchtbar misstrauischem Blick. (Misstrauisch genug, ihre Stirn in Falten zu legen, aus denen Bestürzung sprach.) „Außerdem“, sagte sie, „riechst du wie ein Obst- und Gemüsestand.“
Jeder Mensch ist ein Fremder. Manchmal sind mir Bäume lieber. Ihre Arme sind viel offener. Vor allem, wenn die Blätter ab sind, so wie jetzt. Ich laufe weiter, Pflaster- und Bordsteine entlang, Straßen und Gässchen, vorbei an Cafés und verfallenen Kirchen. Und Geschäften. Und noch mehr Geschäften. Alle kaufen Dinge, die keiner braucht, während meine maroden Röhren pfeifen wie ein Teekessel, der gerade vom Herd kommt.
Vergib mir, ich hatte vor, über Geistigkeit reden.
Ich werde so weitermachen, bis alle meine Teile in Kommunikation miteinander sind. Mein Körper mit der Seele und andersrum. Das könnte ein langer Weg sein. (Denk daran, Proviant mitzunehmen.) Alle kaufen weiter Dinge, die sie nicht wollen. Schau, die linke Hand versucht, die rechte zu überbieten! Wenigstens habe ich eine Stelle. Ich arbeite für die Stadt. In der Wohnraumverwaltung. Dabei lebe ich auf einem Dachboden, der nie warm zu werden scheint. Ich schlafe unter einer Dämmstoffmatte. Die Dienstkrawatte steht mir gut. Krawatten decken den Kehlkopf ab, eine der vielen Röhren, die bei mir jetzt infiziert sind.
Haben alle die Geduld verloren?
Als ich gestern Abend auf meinem Dachboden ein Fenster öffnete, sah ich drei Kaminröhren, die aussahen wie die Ventile einer riesigen Trompete. Ich wollte auf ihnen spielen. Wollte die Ventile säubern. Dann sind meine eigenen Röhren vielleicht auch wieder frei. Aber nein, ich bleibe verstopft. Mein Geist sitzt in einem Fläschchen, dicht verschlossen mit Ohrenschmalz. Benommen von lauter Schmerzmitteln weine ich Zitronentränen. Meine Sinne schauen einander an, um sich ihrer Existenz zu vergewissern. Sobald ich einmal nur niese, geraten sie wieder durcheinander.
Meine Hände sind sehr weiß. Sie fliegen mir aus den Hemdsärmeln wie Origami-Tauben.
Ich
bin noch immer auf der Straße. Ich gehe solange weiter, bis ich
annähernd verstehe, wie du und ich aufeinander wirken. Meine Seele
auf jemand anderen und andersrum. Das könnte ein langer Weg sein.
(Denk daran, Ewigkeit mitzunehmen.) Ich drücke mein fahles Haupt
durch den dichter werdenden Nebel. Auf dem Herd muss eine ganze Stadt
Teekessel kochen. Meine Lunge fühlt sich an wie mit Socken
ausgestopft.
Oh Gott, wie wir uns vernachlässigen! Ich versprühe
weiterhin Tinte aus den Beuteln
unter meinen Augen. Das Dunkel abhängen kann ich nicht. Ich trage es
durch die Stadt. Wie einen zusammengerollten Teppich in mir drin.
Und der Weg ist noch weit, oh Süße. Der Weg ist noch weit.
Eine
Burg, eine Kathedrale, die Zinnen im Nebel. Und wie viele Gesichter
ragen über die Brüstung, um zu sehen, was unten passiert? Kein
einziges kann ich sehen. Die Leute shoppen. Die Leute schlafen. Die
Leute shoppen im Schlaf.
Meine Zitronen- und Honig-Dünste machen
den Nebel nur noch dichter.
Die Augen brennen auf Visionen. (Es gibt einen großen Unterschied
zwischen Vision und Ansicht, vergiss das nicht.) Ich suche Schutz im
Schatten anderer Leute, doch trickst der eigene Schatten mich aus. Er
trödelt hinterher. Er überholt. Er schwillt in frechem Übermut
an.
Sag mir, bin ich noch Mensch oder nur unbemerkte
Beschwerde?
Und
sag auch, sind diese anderen Gestalten noch Leute? Paketbeladen
krümmen und verdrehen sie sich. Ihre Wirbelsäulen bersten unter
dem, was sie kaufen. Und gekauft haben. Sogar ihre Schatten sind
eingepackt. Mit Seidenbändern dran.
Wohin schaffen sie all diese
Dinge? Ich arbeite für die Stadt. In der Wohnraumverwaltung. Haben
sie Platz für all diese Tüten und Taschen?
Meine tränenden
Augen brauchen Bildschärfe. Ich bin eine Trompete mit verstopften
Ventilen.
Und das, nachdem ich gerade wieder dachte – aufgrund einer mächtigen neuen Utopie oder eines administrativen Fehlers – das Leben sei lebenswert.
Als
die Kirchenglocken läuten, denken die wenigen, die sie bemerken, es
sei ein Fehler. Oder eine Hochzeit. Oder ein Begräbnis. Denn die
Geschäfte sind alle noch geöffnet. Bespickt mit Kassenzetteln
beschleunigen die mutierenden Mengen
den Schritt. Unter Einsatz ihrer Ellenbogen steuern sie durch
überfüllte Straßen. Ich versuche, durch die geschwollenen Röhren
zu atmen. Ich versuche, Platz zu finden.
Doch dieses Haupt
schrumpft. Ich kann den kalten Nebel in den Angstfurchen spüren.
Meinen Hut habe ich vergessen. Meine Ohren sind Fremdkörper, ein
frierendes Paar Klammern.
Von irgendwo her kommt eine Stimme, „Sie sind ja schön, diese Bilder. Aber irgendwie nicht für die Menschen.“ „Deswegen arbeite ich für die Stadt,“ rief ich. „In der Wohnraumverwaltung.“
Würden
sie für ihre Seelen sich
so anstellen, könnte ich das verstehen. Würde jauchzen. Tanzend von
Fuß bis Adamsapfel würde ich die honig-tauben Glieder schütteln.
Aber mich übermannt der Geruch von Plastik und billigem Parfüm, das
die Horden in ihren grässlichen Klauen halten. Schau, die rechte
Hand versucht, die linke zu kaufen! Ich reiße den Mantel auf und
atme noch einen Schwall Knoblauch ein.
Als ich vorbeigehe,
schrillt im Geschäft ein Alarm los. Ein Licht blinkt auf. Ein
Wachmann packt mich am Arm.
„Haben Sie für den bezahlt?“
fragt er und deutet auf meinen Schatten.
„Oh ja“, sage ich,
„ja, das habe ich, und wie!“
„Sie
schon wieder?“ sagt sie mit einem Einkaufstaschen-Seilhenkel als
Mund.
„Ja-ha“, sage ich.
„Geht Ihnen aber nicht gut“,
sagt sie.
„Nein“, sage ich.
„Sie müssen seit Stunden in
der Stadt sein.“
„Ja, das bin ich, glaube ich“, sage
ich.
„Und Sie riechen nach Knoblauch.“
„Das kann man so
sagen“, sage ich.
„Sie gehören ins Bett.“
Und damit verschwindet sie wieder in der Zirkusmenge. Wo die Leute mittlerweile riesige Pakete jonglieren, die hoch in die Luft fliegen und von sich reckenden Händen weiter gestoßen werden. Andere ergreifen die Bündel, halten sie in die Höhe und mühen sich, nach Hause zu kommen, bevor ihre Knie wegsacken. Drei Menschen versuchen, mit umgehangenen Tüten sich an Fensterleisten die Straße entlang zu hangeln. Zwei seilen sich ab, aus einer hoch gelegenen Wohnung die Laden-Fassade herunter. Sie werden etwas einkaufen, dann wieder hinaufklettern. Beim Hochsteigen bieten die Leute unten um ihre nackten Knöchel.
Aus verstopften Ventilen kommt kein Ton.
Ich singe nicht, ich pfeife auf dem letzten Loch. Und du sagst, es sei nur Grippe? Oder eine leichte Entzündung der Atemwege? Wenn ich huste, bebt mein ganzer Kopf, und die Augen springen in ihren Höhlen wie Bingokugeln in der Trommel. Ich muss mich festhalten, aber etwas in meiner Umgebung bewegt sich. All das Einpackpapier, das Gerenne bringt mich durcheinander. So viele Lichter leuchten, dass man Migräne kriegen kann. Ich darf nicht krank sein. Ich habe eine Stelle. Bei der Stadt. In der Wohnraumverwaltung.
Plötzlich
sehe ich sie. Sie trägt einen Geist wie ich. Und kein Shopping! Ihre
Augen rutschen unter dem Rand ihres Hutes hervor und rollen die ganze
Länge Einsamkeit aus. Sie hat Beutel
genau wie ich.
Oh Gott, wir könnten die hellsten Räume mit
unserem haltlosen Dunkel füllen! Oder durch Hauchen einen Wind
auslösen, der uns nicht zerbricht, sondern zu dem emporträgt, was
wir werden wollen.
Doch als ich mich nähern möchte, ist sie
schon verschwunden.